Ein Denkfehler wird salonfähig

Die Homöopathie-Kritikerin Natalie Grams hat nachgelegt: Nach ihrem Buch gegen Homöopathie nimmt sie jetzt die gesamte Integrative Medizin ins Visier. Auch Anthroposophische Medizin und traditionelle Heilverfahren sollen am besten verschwinden. Dabei bleibt vor allem eins auf der Strecke: das Wohl der Patient*innen.

Von Hans-Josef Fritschi

Nichts Neues von der Skeptikerfront – so könnte man Natalie Grams vor Kurzem erschienenes Buch Was wirklich wirkt inhaltlich zusammenfassen, in dem es einmal mehr um die „sanfte Medizin“ geht. Dass die Ex-Homöopathin seit einigen Jahren Globuli & Co. und alles, was sie im Fahrwasser des „Hahnemann’schen Zauberkults“ ausmacht, mit erstaunlicher Vehemenz bekämpft, ist mittlerweile allgemein bekannt – auch dass sie und ihre Mitstreiter*innen hierbei inzwischen recht erfolgreich sind. Das Buch, das als „Kompass durch die Welt der sanften Medizin“ beworben wird, versammelt die seit Jahren bekannten Thesen der Kritiker von Homöopathie, Anthroposophischer Medizin und vieler traditioneller Heilverfahren in mitunter nur notdürftig abgewandelter, neuer literarischer Umkleidung. Auf dem Cover soll eine zentrale Frage (deutlich hervorgehoben in einem roten Punkt) potenzielle Käufer ansprechen: Wie wirken Homöopathie, Osteopathie, Akupunktur, TCM? Man muss das Buch nicht gelesen haben, um die Antwort der Autorin auf diese Frage zu kennen. Denn sie meint: gar nicht. Vielleicht wissen das nur Leute, die Frau Grams und ihren Hintergrund bereits kennen. Andere werden mit dieser Frage angelockt, in den rund 250 Seiten eine verlässliche Antwort darauf zu finden. Eine solche finden sie jedoch nur auf die Frage, was (vermeintlich) nicht wirkt. Was in der Medizin aber „wirklich wirkt“, wird kaum thematisiert.

Unmögliche Unterteilung

Für Natalie Grams ist die Frage, wie man sich zur „Alternativmedizin“ verhalten soll, schnell beantwortet: Was wirkt, ist Medizin, was nicht wirkt, ist keine Medizin. Da weder Globuli, Mistelpräparate, Akupunkturnadeln noch Yogastellungen Belege für eine therapeutische Wirksamkeit erbringen könnten, soll man sie auch nicht in der Medizin anwenden – und falls das schon der Fall ist (und wo ist es das nicht), gehörten sie aussortiert. Diese Schlussfolgerung des Buches basiert auf einem Denkfehler, jenem nämlich, man könne therapeutische Verfahren in „sicher wirksam“ und „sicher unwirksam“ unterteilen. Natalie Grams verweist hier auf die RCTs, die klinischen Doppelblindstudien. Diese jedoch (selbst wenn sie den „Goldstandard“ unter den Studien darstellen) sind für die Beurteilung einer therapeutischen Wirksamkeit nur bedingt aussagekräftig. Sie können zwar eindeutig zeigen, ob ein Arzneimittel eine spezifische Wirkung besitzt (besser als Placebo), haben aber keine Aussagekraft darüber, ob ein solches Mittel seine belegte Wirksamkeit im konkreten Einzelfall auch zeigen kann.

Bei der Bewertung klinischer Studien schaut man immer nur auf einen Faktor: Ist das Mittel signifikant wirksamer als das Scheinmedikament der Placebogruppe? Wenn das der Fall ist (oder auch nicht), ist die Sache erledigt. Niemand beachtet eine andere Zahl, die jede klinische Studie auch anzeigt: Wie oft blieb das an sich wirksame Medikament wirkungslos? Das kommt bei 20, 30 oder 40 Prozent der Probanden vor. Daraus ergibt sich als Schlussfolgerung ein Paradox: In ein und derselben Studie kann ein Arzneimittel oder ein Therapieverfahren seine potenzielle Wirksamkeit unter Beweis stellen und gleichzeitig wird in ihr belegt, wie oft es (trotz Wirksamkeitsnachweis) wirkungslos blieb. Natalie Grams‘ Denkfehler beruht darin, die Wirksamkeit gegenüber Placebo gleichzusetzen mit der tatsächlichen Wirksamkeit im medizinischen Alltag – denn einzig und allein dieser ist für das therapeutische Handeln letztlich relevant. Ob wirksam oder nicht entscheidet sich in der Medizin immer am speziellen Fall, nicht aber im rationalistischen Reinraum klinischer Studien. 

Klinische Studien sind für die Medizin von zentraler Bedeutung – wer möchte dem widersprechen. Zu Grams‘ Aussagen gehört aber auch die Tatsache, dass jedes erfolgreich getestete Mittel seine Wirkungslücke hat. Und diese kann mitunter beträchtlich sein. Folglich: Was wirklich wirkt, kann niemand vorhersagen, weil das Leben – erst recht das kranke – einfach nicht ver- und berechenbar ist. Der Titel Was wirklich wirkt macht somit falsche Versprechungen. Und in der Tat finden sich im Buch nur wenige Ausführungen zu dem, was denn nun wirklich wirksam ist. Der Großteil zählt das vermeintlich Unwirksame auf, die Methoden der „Alternativmedizin“, über die im Schlusskapitel kurz und knapp der Stab gebrochen wird. Dabei ist das Buch leicht und flüssig zu lesen, stellt auch wirklich wichtige Fragen und ruft dazu auf, den Verstand einzuschalten, wenn es um die eigene Gesundheit geht. Vielem, was da steht, kann man durchaus zustimmen, oder es regt zumindest zu einem tieferen Nachdenken an.