Zwei alte Gegner nähern sich an: Naturheilverfahren und Schulmedizin sind gemeinsam wirksam

Die Schulmedizin allein hilft nicht immer. Allein auf Naturheilverfahren zu setzen, ist meist auch nicht gut. Dass nicht nur Patienten, sondern auch Ärztinnen von sich aus beides kombinieren, ist neu, aber vielversprechend. von Dirk Engelhardt

«Alles hat mit allem zu tun» – davon sind die Ärztinnen und Ärzte der Integralmedizin überzeugt. Die Integralmedizin verbindet zwei Fachgebiete, die es bisher schlecht miteinander konnten: Naturheilverfahren und Schulmedizin.

Der Ansatz ist ganzheitlich: Kein Organ des Körpers arbeitet autonom, alles ist verbunden. Abbas Schirmohammadi, Heilpraktiker für Psychotherapie in Deutschland, definiert Integralmedizin so: «Es ist eine Medizin ohne ideologische Grenzen. Die integrative Medizin kombiniert das Beste aus Schulmedizin und Komplementärmedizin. Sie aktiviert die Selbstheilungskräfte der Patienten und bewirkt vor allem bei chronischen Erkrankungen Heilerfolge.»

Esoterischer wird es bei der sogenannten ganzheitlichen Medizin. Diese kombiniert Naturheilkunde und klassische Medizin mit naturphilosophischen, religiösen, mystischen, esoterischen, systemtheoretischen, psychosozialen und ökologischen Aspekten. Deren Verfechter glauben, dass man, um ganzheitliche Gesundheit erreichen zu können, auch seine Lebensvisionen und Ideale erfüllen muss.

Die beiden medizinischen Lager schätzen sich gering

Eindeutig sind die Definitionen aber nicht. Gerhard Tiemeyer von der Deutschen Gesellschaft für Alternative Medizin sagt: «Diese Begriffe werden je nach eigener Sichtweise definiert – mit dem Versuch, sich irgendwie von anderen abzugrenzen.»

Wenn Patienten an einer Krankheit leiden, die von verschiedenen Ärzten ohne Erfolg behandelt wurde, suchen sie oft auch Heilung in der Alternativmedizin. Oft halten sie ihre Konsultation beim «feindlichen Lager» geheim, weil sie wissen, dass die Ärzteschaft auf der einen Seite die vom anderen Lager gering schätzt. Jeder hält sich und sein Medizinsystem für das einzig Richtige.

Die Integrale Medizin bewirtschaftet diese Spaltung nicht. Allerdings sind solche Ärztinnen und Ärzte rar gesät. Maja Roje Novak ist Ärztin für Integralmedizin in Zagreb und findet: «Wir müssen uns bewusst sein, dass auch die westliche Medizin eine Ideologie sein kann, wenn die Ärzteschaft zu nahe mit der Medikamenten- und Ausrüstungsindustrie zusammenlebt und am Gewinn beteiligt ist.»

Oft gibt es keine Alternative zur klassischen Medizin

Und doch gibt es zur klassischen Medizin in vielen Bereichen keine Alternative, gerade bei schweren Krankheiten, die eine Intensivpflege oder Operation verlangen. Für den Arzt sei es wichtig, kritisch zu sein, sagt Roje Novak, um unterscheiden zu können, wann und wo er nach anderen Mitteln greift.

Die Integralmedizin betrachtet den Körper holistisch: Das Behandlungssystem bezieht die gesamte Person, Körper, Geist und Verstand und die Lebensarten mit ein. Kranker und Therapeut sollten idealerweise eine Partnerschaft eingehen. Und: Der Körper sollte das eigene, volle Potenzial zur Heilung entwickeln können.

Gerade dieser Aspekt kommt bei der klassischen Medizin häufig zu kurz. Ärztinnen und Ärzte der Integralmedizin betrachten alle möglichen Faktoren, die zu der Krankheit auf dem Niveau des Körpers, des Verstandes und Geistes und der Umgebung beitragen könnten. Dann wägen sie ab: Welche konventionellen und alternativen Möglichkeiten der Heilung gibt es?

Diese Behandlung ist zeitintensiver

Wenig invasive Therapien ziehen sie vor. Das ist aufwendiger. «Integralmedizin beansprucht häufigere Interventionen, um einen Patienten zu heilen, während die klassische Medizin sich auf wenige beschränkt», sagt Roje Novak. «Die klassische Medizin gebraucht weniger Werkzeuge, um ein Problem im Körpersystem zu lösen. Als Neurologin benutze ich aber integrierte Ansätze mit viel Erfolg.»

Sie verweist auf Multiple Sklerose, sie beschränke sich bei dieser Autoimmunerkrankung nicht nur auf Physiotherapie und Immunmodulation, sonder nutze auch Homöopathie, Vitamine, Ernährung, Magnettherapie, Aromatherapie, Akupunktur, Psychotherapie und Bienengift. Auch bei Stottern und verzögerte Sprachentwicklung setzt sie nicht nur auf Sprachtherapie, sondern erweiterte die Behandlung mit Vitaminspritzen und Homöopathie.

Der innere Arzt soll aktiviert werden

Doch wie sehr geht es dabei einfach um die maximale Nutzen des Placeboeffekts, der den Körper zur Selbstheilung animiert? Christian Engelbert betreibt eine Praxis für Integrative Medizin in Berlin und sagt: «Ich möchte den Inneren Arzt aktivieren und Therapieblockaden aufdecken.»

Er hat die vernetzten Strukturen im Körper im Blick: Zum Beispiel die Verbindung der Zähne mit Organen, Gelenken oder dem Bindegewebe. Auch die Verbindung der Darmfunktion mit dem Gehirn sei wichtig. Dass die Herzfunktion mit der Stressbelastung verbunden ist, ist nicht neu. «Schubladen-Diagnosen» mag Engelbert nicht. Er macht eine ausführliche Anamnese und erweiterte Diagnostik, wozu auch Kinesiologie, Bioresonanz, TCM-Kriterien und Ayurveda gehören.

Die Integralmedizinerin Astrid Quack weist darauf hin, dass der Mensch sehr komplex sei und schon nur deshalb eine ganzheitlichere Sichtweise nötig sei. Je offener zudem die Patienten seien, desto effektiver könne die Heilung aus seinem Inneren heraus erfolgen.

Krankenkassen bleiben skeptisch

Röntgen, CT und Labordiagnosen helfen Astrid Quack, die Ausbreitung und Ausprägung einer Erkrankung besser einschätzen zu können. Sanftere Methoden wie Ayurveda, chinesische Medizin oder Osteopathie könnten, wenn sie in schulmedizinische Ansätze integriert werden, den Patienten «in seiner Gesamtheit», wie sie sagt, zur Heilung führen.

Krankenkassen, die sich mit Naturheilkunde schwertun, sehen meist auch die Integralmedizin skeptisch. Denn die meisten Methoden sind noch nicht wissenschaftlich auf ihre Wirkung überprüft. Aber nur dann werden sie von Krankenversicherern in den Leistungskatalog aufgenommen. Bei einem ganzheitlichen Ansatz mit mehreren Komponenten wird es aber immer schwierig zu beweisen sein, was am Ende geheilt hat: Das Medikament, die positive Einstellung des Patienten, der Einfluss der Ärztin oder die Zeit?

Quelle: https://www.tagblatt.ch/leben/medizin-zwei-alte-gegner-naehern-sich-an-naturheilverfahren-und-schulmedizin-sind-gemeinsam-wirksam-ld.2399012