Zu Unrecht verkannt: Warum der Beruf des Heilpraktikers Unesco-Kulturschutz verdient

Unser Autor zeigt die Entwicklung des Heilpraktikerberufs in Deutschland auf und leitet daraus schließlich die Forderung nach einem Schutzstatus für seine Zunft ab.


Kann es sein, dass ein Heilpraktiker Ihnen „in die Augen“ sieht und tatsächlich angeborene körperliche Stärken und Schwächen „herausliest“? Selbstverständlich geht das. Eine spezielle Reflexzonenbetrachtung der Iris im Patientenauge macht das möglich. Heilpraktiker verwenden vielfältige, traditionelle oder auch neuartige diagnostische und therapeutische Verfahren. Sie erzielen Heilerfolge auf der Basis ihrer naturheilkundlichen Sichtweisen und Therapieansätze. Ihre Angebote sind für jeden verständlich, bezahlbar und im Alltag erprobt.

Diese nichtärztliche Naturheilkunde, egal unter welchen Namen, Organisationsformen oder gesellschaftlichen Strukturen, gibt es auch in Deutschland seit langem. Manchmal wurde sie im kleinen Kreis ausgeübt oder bezog sich nur auf die eigene Familie. Dazu einige Beispiele.

In meiner ostsächsischen Heimatstadt Bautzen erlebte ich als Jugendlicher in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts Sonderbares: Man traf hin und wieder einen älteren, sehr dünnen, kleinen Mann, der langsam durch die Straßen joggte. Das war völlig ungewöhnlich. Ein anderes Mal hatte er einen langen Holzstab dabei, mal saß er auf dem Fahrrad. Er trug zumeist kurze Hosen, im Winter manchmal über einer sogenannten Palucca-Hose. An seinem Lenker befand sich eine Art Notenständer. Darin klemmte ein Büchlein, und man hörte ihn im Vorbeifahren etwas murmeln. Es hieß, er sei ein Sonderling mit eigenartigen Lebensansichten und würde während der Fahrt Englisch lernen, um gleich den Kopf mit zu trainieren. Es handelte sich dabei um den Kinderarzt Hans Schnabel (1889–1977), einen Naturheilkunde-Pionier und Lebensreformer, wie ich erst später begriff.

Erstaunliche Griffreihe entlang der Sehnen und Bänder

Meine Mutter kämpfte lebenslang mit endogenen Depressionen. Diese im Zaum zu halten, dafür hatte sie einen homöopathisch behandelnden Arzt gefunden. Deshalb fuhr sie einmal im Jahr mit einem befreundeten Bautzener Fabrikanten für Kittelschürzen im Polski Fiat bequem zu Doktor Gottschalk nach Görlitz – und ich durfte mit. Bei ihm erhielten wir beide für je zehn Mark der DDR eine privatärztliche Augendiagnose.

Regelmäßig verordnet wurden meiner Mutter immer wieder kleine Fläschchen aus dem VEB Ankerwerk Rudolstadt oder vom VEB Leipziger Arzneimittelwerk, abzuholen gleich nebenan in der Apotheke. Und schließlich, als ich mir beim Volleyballtraining einen Kapselriss am Daumengrundgelenk zugezogen hatte, fuhren wir zum „Ziehmann“. Der erblindete Chirotherapeut praktizierte im Pfefferkuchenstädtchen Pulsnitz. Er betastete die Schmerzstelle und verordnete eine Salbe.

Zu Beginn der Neunzigerjahre gab es die DDR nicht mehr. Ich wohnte und arbeitete längst in Berlin, dachte aber daran, über die nichtärztliche Naturheilkunde zu forschen. Ich hörte von der Heilpraktikerin Herta Lanzendorf in Altenberg und interviewte einen über 90 Jahre alten Heilpraktiker in der Nähe von Dresden. Zeitgleich besuchte ich den „Zschornack“, einen alten sorbischen Bauern aus der Gegend von Kamenz. Er kümmerte sich neben seinen Tieren auch um kranke Menschen. Und er zeigte mir in einer Dreiviertelstunde an einer Patientin, wie er einen akuten Hexenschuss durch eine erstaunliche Griffreihe entlang der Sehnen und Bänder von den Füßen bis zum Kopf beseitigen konnte.

In der DDR war der Heilpraktikerberuf zum Auslaufmodell aus Vorkriegszeiten geworden, aber Heilkundige gab es weiterhin. Wer also Warzen oder Hautausschlag, die Gürtelrose, ein Magengeschwür und überhaupt sonstige chronische Erkrankungen, bei denen die ärztliche Kunst versagte, doch noch loswerden wollte, musste nach Alternativen suchen. Auch die Dresdner Kreuzchorknaben erhielten bei plötzlicher Heiserkeit kurz vor dem Auftritt schnell mal eine Akupunkturnadel gesetzt.

Der Kreuzchor bei den Dresdner Musikfestspielen 1981Klaus Thiere/imago

Vom medizinischen Establishment argwöhnisch beobachtet

Jedoch konnte man sich damals zum Heilpraktiker weder ausbilden lassen, noch existierte ein gesetzlich abgesicherter Berufsstand. Aber diese rar gewordenen Praktiker boten neben Zuspruch und alternativen Diagnosen eine naturheilkundliche Behandlung bzw. verordneten homöopathische, pflanzliche oder mineralische Mittel. Ihre Bezahlung war bescheiden, oft nahmen sie nur ein kleines Zubrot zur Rente.

Wer zu DDR-Zeiten Heilpraktiker blieb und so seinen Lebensunterhalt bestritt, den ließ man durchaus gewähren. Jedoch wurden Naturheilkundige vom politischen und medizinischen Establishment argwöhnisch beobachtet und von der Verwaltungsbürokratie gern kontrolliert. Sie waren unbequem, weil sie das gesundheitliche Einheitssystem störten, allein durch ihre Existenz.

Teile der Ärzteschaft, die während ihrer akademischen Ausbildung eigentlich anderes gehört und gelernt hatten, tolerierten diese „seltsame Berufsgruppe“ zu allen Zeiten. Ja, sie empfahlen manchmal sogar selber, zum Besprechen zu gehen, wenn die Warzen beim Patienten eher mehr als weniger wurden.

Zudem waren Heilpraktiker schon in der DDR wirtschaftlich gesehen keine Konkurrenz. Status und Einkommen des schulmedizinisch ausgebildeten Arztes waren und sind verbürgt. Zudem widmeten sich schon damals einige Fachkollegen selber stärker den Naturheilverfahren und vertraten Gebiete wie Diätetik, Physikalische und Rehabilitative Medizin oder Manuelle Therapie.

Nach 1989/90 schien auch der Heilpraktikerberuf von der gesellschaftspolitischen „Morgendämmerung“ erfasst zu werden. „Im Westen“ längst als freier Beruf anerkannt und weiterentwickelt, wurden veraltete Behandlungshindernisse durch den Gesetzgeber weiter beseitigt. Neue Kolleginnen und Kollegen bevölkerten die Ausbildungsinstitute. Denn durch die Schließung von Betrieben, den Umbau der Verwaltungen und die Übernahme der Arbeitsplätze durch die „Abwickler“ und ihre Netzwerke aus „dem Westen“ entstand auf dem Gebiet der DDR ein Überhang an gut ausgebildeten Fachkräften, Angestellten und Akademikern.

So kamen Krankenschwestern und Polizisten, Tierärzte, Pädagogen und Geisteswissenschaftler in den Heilpraktikerberuf. Nach einer abgeschlossenen, zumeist mehrjährigen Ausbildung erfolgt bis heute immer eine amtsärztliche Prüfung und Zulassung, an die sich oft eine längere Assistenzzeit anschließt.

Zahl der Vollzeitpraxen bleibt gering

Der damit einhergehende Aufschwung machte sich aber nicht nur zahlenmäßig bemerkbar, sondern führte durch mehr qualifiziertes Personal zur Aufwertung der Erfahrungsheilkunde. Der Heilpraktikerberuf verbreitete sich allmählich auch im Osten flächendeckend. Die Kollegenschaft verdoppelte sich gesamtdeutsch auf heute nahezu 45.000 Heilpraktiker und die Patientenkontakte erreichten die 46-Millionen-Grenze pro Jahr. Allerdings blieb die Zahl der tatsächlichen Vollzeitpraxen mit geschätzt 6000 eher gering, der Umsatz im Vergleich zur Ärzteschaft unbedeutend.

Wie in der Bundesrepublik in vielen Branchen üblich, wird all dies von rührigen Fachverbänden getragen, in denen große Teile der Kollegenschaft organisiert sind. Dies ist nicht nur vorteilhaft, um die Interessen des Berufsstandes in der Öffentlichkeit zu vertreten. Sondern die unterschiedlichen Berufsverbände mit ihrer „Gesamtkonferenz“ an der Spitze sorgen für regelmäßige Aus- und Weiterbildungen, haben Qualitätssicherungs- und Bewertungssysteme eingeführt und bieten Kompetenz durch Beratungs- und Serviceangebote wie etwa Fachzeitschriften für ihre Mitglieder.

Die Heilpraktiker stehen noch immer in einer jahrhundertealten, landesweit verbreiteten und in weiten Bevölkerungskreisen anerkannten Heiltradition. Sie arbeiten zeitgemäß modern und erzielen reale Heilerfolge. Dabei begreifen sie den Menschen in seiner Individualität, berücksichtigen den Zusammenhang von Körper und Seele und verstehen den Organismus als ein sich selbst regulierendes „Netzwerk“, auf das mit unterschiedlichen Zugängen Einfluss genommen werden kann.

Auch über die DDR- und die Umbruchszeit hinweg und besonders in den alten Bundesländern, wo das Gesellschaftssystem offener war, ist es den Heilpraktikern gelungen, bewährte Therapieformen wie Akupunktur, Blutegelbehandlung sowie Ausleitungs-, Reiz- und Reflexzonentherapien weiterzuentwickeln. Heute profitiert auch die ärztliche Kunst davon, wie etwa die inzwischen erfolgte wissenschaftliche Anerkennung der Akupunktur beweist. Auch immer mehr Fachärzte spezialisieren sich zusätzlich auf Verfahren der Naturheilkunde, Lehrstühle werden eingerichtet und ihre Vertreter können aus dem jahrzehntelangen Schatten der Nichtbeachtung heraustreten.

Der Heilpraktikerberuf ist ein Frauenberuf

Die nichtärztlichen Heiltraditionen sind Bereichen wie Lebensreform, Naturphilosophie und vielfältigen Ansätzen zuzuordnen, wie wir sie in nachhaltigen Lebens- und Gesellschaftskonzepten weltweit finden. Ihre Einsichten und Maximen demaskieren damals wie heute die Gefahren der modernen Industriegesellschaft und einer weitgehend monopolisierten Pharma- und Medizinindustrie, die inzwischen oft das Geschäft über die Gesundheit stellt. Fehlentwicklungen wie die „Chemisierung“ der Nahrungsmittelproduktion in Industrie und Landwirtschaft sowie die permanente Übernutzung bis hin zur Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen (Klima, Boden, Wasser usw.) werden offensichtlich.

Zudem ist der Heilpraktikerberuf auch ein Frauenberuf, denn ca. 80 Prozent aller Kolleginnen und Kollegen sind Frauen. Es ist der Emanzipationsbewegung zu danken, wenn diese heilkundigen Frauen in historisch-kultureller Tradition zu einer Stütze der deutschen und europäischen Medizinkultur geworden sind.

Aber ist das heute schon im gesellschaftlichen Bewusstsein und im politischen Handeln angekommen? Oder dominieren vielmehr monopolistische Markt- und Globalisierungsstrategien in der Medizin unseren Alltag? Wenn das so ist, wird die medizinische Versorgung den aktuellen ökologischen Erfordernissen und Wünschen nach vielfältigen und nachhaltigen Lebensweisen nicht gerecht.

Heilpraktiker vertreten eine „Medizin von unten“. Ihre Angebote beinhalten individuelle Freiheiten wie Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Traditionell gibt es das in jeder historisch gewachsenen Gemeinschaft weltweit. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern aber besitzen in Deutschland die Heilpraktiker den Status eines umfassenden, freien und anerkannten Medizinberufs mit eigenen Diagnose- und Therapieformen. Das darin enthaltene kulturelle Erbe wurde und wird von Generation zu Generation als Wissen und in der Praxis weitergegeben.

Immer wieder aber versuchen medizin-politische Lobbyisten, den Heilpraktikerberuf zu demontieren oder – wie 2021 über ein juristisches Gutachten – am liebsten ganz abzuschaffen. Um auch solchen Bestrebungen in Zukunft Einhalt gebieten zu können, ist es dringend geboten, dass der Heilpraktikerberuf zunächst wenigstens den verdienten immateriellen Unesco-Schutzstatus erhält.

Thomas Scholze studierte Kulturgeschichte und Ethnographie an der Berliner Humboldt-Universität, arbeitete als Absolvent an der „Akademie der Wissenschaften der DDR“, publizierte u.a. zum Alltagsleben an der „Berliner Mauer“ und ist seit 1997 als Heilpraktiker selbstständig. Im Februar 2025 erschien im Spurbuchverlag Baunach sein Buch „Heilpraktiker-Medizin. Kein Hokuspokus. Mit Reiz und Tradition zu eigener Kraft“. 

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde.

https://www.berliner-zeitung.de/open-source/zu-unrecht-verkannt-warum-der-beruf-des-heilpraktikers-unesco-kulturschutz-verdient-li.10006505